Um am 20. August als Kandidatin an der Podiumsdiskussion von Verdi Hamburg zur Pflegepolitik teilzunehmen, war die Bedingung, vorher ein Pflegepraktikum zu machen. Damit begann ein Tag, den ich so schnell nicht vergessen werde. Um 10 Uhr trat ich meinen „Dienst“ bei pflegen und wohnen Alsterberg an.
Kurzes Vorgespräch, erste Informationen: Im Alsterberg gibt es nur stationäre Pflege, alle Pflegestufen. Zwei Demenzabteilungen, davon eine geschlossen, und eine Station mit Patientinnen und Patienten im Wachkoma. Ich streichle einen Hund, der sich zu der Runde mit der Pflegedienstleitung, dem Prokuristen und der stellvertretenden Betriebsratsvorsitzenden gesellt: Tiere gibt es einige hier, auch Katzen und Kaninchen. Sie leisten den Bewohnerinnen und Bewohnern Gesellschaft. Neben dem Heim liegt eine Kita: Die Kleinen kommen einmal die Woche rüber. Dann werden Spiele gespielt oder gemalt.
Auf der Station ziehe ich mich um – jetzt sehe ich wie eine richtige Pflegekraft aus – nur leider ohne jede Ahnung, was ich machen soll und darf. Ein Pfleger nimmt mich in das erste Zimmer: Frau P. muss auf die Toilette begleitet werden, dann angezogen. Sie fährt dann mit einer Altenbegleiterin im Rollstuhl sitzend spazieren. Sie lächelt fröhlich.
Das zweite Zimmer: Eine Frau mit Glasknochen muss gewaschen, die Öffnung rund um die Magensonde gereinigt, ihre Bettwäsche gewechselt werden. Ich packe mit an, Frau K. vorsichtig auszuziehen, sanft zu waschen, und helfe mit, sie zu drehen, damit das Laken unter ihr entfernt werden kann. Die Gerüche sind intensiv, ich kann damit aber gut umgehen. Sie stöhnt, ich rede ihr zu, denn sie hat durch das Drehen und Ausziehen Schmerzen. Die Augen öffnet sie nicht, sie redet auch nicht.
Das dritte Zimmer: Die Bewohnerin Frau L. berichtet mir, wie überfordert die Pflegerinnen und Pfleger sind. Dass es so wenig Personal gibt. Dass alle ihre Arbeit so gut wie möglich machen, sich aber nicht zerreißen können. Dann erzählt sie von ihrem bereits gestorbenem Mann, von ihrem Sohn, von ihrem ehemaligen Haus. In jungen Jahren wurde ihr rechtes Bein unterhalb des Knies amputiert – Keime. Und sie erzählt, dass sie einmal in der SPD gewesen ist. Wäre ich richtig im Dienst, wäre für so ein langes Gespräch vermutlich keine Zeit.
Mittagessen: Ich binde wie alle Pflegekräfte eine hellblaue Schürze um und helfe, das Essen auszuteilen. Es kann aus verschiedenen Gerichten gewählt werden. Wer nicht kauen kann, bekommt das Essen passiert. Ich stelle mich in einem Zweibettzimmer an das Bett von Herrn D., der seine Fäuste fest ballt. Seine Hände sind spastisch verkrampft. Er schaut mich an, als ich ihn anspreche, dann gebe ich ihm Löffel für Löffel sein Essen. „Mjamjamjam“ ist das Einzige, was er sagt. Der „richtige“ Pfleger hilft dem anderen Bewohner des Zimmers beim Essen. Wer würde Herrn D. helfen, wenn ich jetzt nicht da wäre?
Im Gruppenraum essen andere Bewohnerinnen und Bewohner gemeinsam am Tisch, auch Frau P. ist darunter. Herr C. rührt sein Essen nicht an. Ich soll ihm helfen. Ich schiebe einen Stuhl neben ihn, setzte mich, stelle mich vor und frage ob, ich helfen darf. Er dreht langsam einen Kopf, schaut mich an und sagt: „Ja, bitte.“ Er isst mit Appetit und trinkt auch den ganzen Apfelsaft aus. Ich räume das Geschirr von allen Tischen und stelle es in die Geschirrspüle.
Dann schaue ich mir die anderen Stationen an. Auf den Demenzabteilungen hängen bunte, große und kleine Taschen an den Geländern. Puppen und Teddys stecken ebenfalls dahinter. Die Menschen hier tragen die Sachen gern herum, wird mir erzählt. Alle Türen sind offen, nur eine Lichtschranke verrät den Pflegekräften, wenn jemand die Station verlässt. Zwei Damen sitzen auf einer Bank, eine wirft mir einen Plastikball zu. Wir spielen eine Weile Werfen und Fangen. Alle lachen. Auf der Terrasse steht ein Kaninchenstall. Die Tier sitzen manchmal bei den Bewohnerinnen und Bewohnern auf dem Schoß. Auch die Katzen halten sich in den Zimmern der Menschen auf. Manche, die ihre Hände nicht benutzen können, fangen plötzlich an, die Tiere zu streicheln, erfahre ich – und staune. Vom Spielplatz der Kita kommt Kindergeschrei. Hier ist Leben!
Auf der geschlossenen Abteilung laufen einige Frauen recht zügig den Gang entlang. Die hiesigen Bewohnerinnen und Bewohner haben einen großen Bewegungsdrang, wird mir erklärt, deswegen dürfen sie nicht raus. Sie würden sich gefährden. Aber Bewegung muss sein!
Auf der Wachkoma-Station erwarten uns zwei Männer im Rollstuhl sitzend vor dem Fahrstuhl. Sie schauen uns an, als wir austreten, glaube ich. Oder? Einige der Menschen hier werden beatmet, andere nicht. Es sind schon welche wieder aufgewacht, aber das passiert nur selten, berichtet mir die Stationsleiterin. Einige sind seit 1998 hier. Auf dieser Station liegen sehr viel mehr jüngere Menschen als auf den anderen, fast alle haben multiresistente Keime aus den Krankenhäusern mitgebracht, die Pflegekräfte müssen sich gut schützen. Seit die Reha-Leistungen so stark eingeschränkt wurden, geht es den Wachkomapatientinnen und -patienten insgesamt nicht mehr so gut, sagt man mir. Es wäre mehr möglich, den Gesundheitszustand wieder zu verbessern und damit die Lebensqualität und die Chance auf eine Rückkehr – aber wer kann sich das leisten? Ich werde wütend, merke ich. Ich bin auch traurig.
Zurück auf der ersten Station beginnt die Kaffee-Zeit. Ich binde wie alle Pflegerinnen und Pfleger eine gelbe Schürze um und teile Kaffee und Kekse aus. Ich gehe wieder zu Herrn D. Er schläft, ich spreche ihn an. Keine Regung. Ich fahre das Kopfteil langsam hoch und tunke den ersten Keks in den Kaffee, weil der sonst zu hart für Herrn D. ist, und halte den Löffel an seine Unterlippe. Der Mund geht auf. Ziemlich schnell sind alle Kekse von Herrn D. aufgegessen und der Kaffee aus der Schnabeltasse getrunken. Wir haben beide kaum gekleckert! Ich lasse das Kopfteil wieder herunter, Herr D. schnarcht augenblicklich.
Auf dem Gang treffe ich Frau L. Sie sitzt im Rollstuhl, sie ist frisiert und sieht sehr gut aus. Ein junger Mann massiert ihr den Nacken. Wir reden noch ein bisschen miteinander. „Das ist meine letzte Station hier vor dem Tod“, sagt sie mir. Es wird so sein.
Abends auf dem Podium erzähle ich von meinem Praktikum. Was für die meisten der TeilnehmerInnen Alltag ist, war für mich die Ausnahme und ein tiefgreifendes Erlebnis. Als ich spät abends im Bett liege, denke ich an Frau P, Frau L., Frau K. Herrn D. und Herrn C. Und an die freundlichen Pflegerinnen und Pfleger, die eine so wichtige Arbeit am Menschen machen. Danke, dass es Euch gibt. Ihr seid mehr wert.
Liebe Kersten,
ganz toll von Dir, denn nun weißt Du aus eigenen hinsehen und mit anpacken, wie schwer dieser Beruf ist. Leider gibt es viel zu wenige Politiker/innen die sich diesen Einblick verschaffen. Deine letzten Sätze im blog fand ich sehr beeindruckend.
Als ich spät abends im Bett liege, denke ich an Frau P, Frau L., Frau K. Herrn D. und Herrn C. Und an diese rührigen und freundlichen Pflegerinnen und Pfleger, die eine so wichtige Arbeit am Menschen machen. Danke, dass es Euch gibt. Ihr seid mehr wert.
So wie Du die letzten Sätze kommentiert hast, so geht es meiner Frau auch fast täglich.
Meine Hochachtung
LG Dieter
Hallo Kerstin, bewundernswert wie du damit umgehen kannst und toll wie du die Tage dort beschrieben hast. Liebevoll und mit viel Verständnis für die Patienten. Danke für die Anteilnahme.