Mia hört nicht

rote-ketteWenn Menschen anfangen, von sich in der dritten Form zu sprechen, sind es in der Regel keine Adligen. Auch kein Chef oder Fußballverbandspräsident, keine Bürgermeisterin würde es sich noch erlauben, sich dermaßen selbst zu erhöhen. Wenn Menschen anfangen, von sich in der dritten Form des singularen Personalpronoms zu sprechen, handelt es sich in der Regel um Eltern oder Großeltern, wenn sie mit ihrem Nachwuchs reden.

Und das hört sich dann so an, wie heute Morgen erlebt: „Mia, komm her zu Oma!“, ruft eine Frau. Sie steht neben uns an der Rewe-Kasse Schanzenstraße 1. Mia, geschätzte eineinhalb, rosa Mütze, steht am Zeitschriftenregal und rupft eines der bunten Hefte heraus. Eine Programmzeitschrift! Mia denkt nicht daran, der Aufforderung zu folgen. Und zieht weitere Zeitschriften aus dem Regal. Dabei ist sie erstaunlich vorsichtig, keine fällt auf den Boden oder reißt ein.

Oma wiederholt ihren Befehl mehrmals. Die Kleine tapst durch die beiden Menschenschlangen, die sich an den Kassen gebildet haben und verschwindet zwischen vielen Beinen. „Mia Kassandra, komm jetzt endlich hierher!“, ruft Oma sinnfrei. Das Kind hört – natürlich – nicht. Die Autorität des dritten Personalpronoms verhallt im Rummel der Sonnabendeinkaufenden. Auf Augenhöhe eines 1 Meter großen Menschen gibt es außerdem Wichtiges zu sehen.

Die Zeitschriften haben es Mia Kassandra angetan. Jetzt setzt sie sich in einen Aufsteller, der an der Kasse steht. Oben lagern griffbereit einige Ausgaben des populär aufgemachten Werbeblättchens der Rewe-Gruppe.  Mia Kassandra setzt sich unten rein. Dort sind weitere Hefte abgelegt, noch in Folie verpackt. Der Stapel passt genau für ihren Po. Fast alle Wartenden grinsen. Oma nicht.

„Mia Kassandra Wiebke, wir sind jetzt dran, geh zu Deinem Wagen!“, ruft sie. Als Oma abkassiert ist, die Waren eingepackt sind und Mia Kassandra Wiebke in ihrem Wagen sitzt, sagt Oma: „Wink mal zum Abschied“. Und die Lütte winkt.

Was macht es mit einem, wenn man anfängt, von sich in der dritten Form zu reden? Wenn Frauen und Männer Eltern oder Großeltern werden, nennen sie sich plötzlich „Mama“, „Papa“, „Oma“, Opa“. Gegenüber dem Kind, aber auch gegenseitig.

Was macht diese Art der Beförderung mit einem Paar? Ich glaube, nichts Gutes. Sie reduziert, und zwar nicht nur für die kurzen Jahre der erhöhten Pflege- und Erziehungszeit mit dem (kleinen) Kind, sondern lebenslänglich.

Ich glaube sogar, es behindert Emanzipation. Nur ganz selten schaffen es doch erwachsene Kinder, sich auf Augenhöhe zu ihren Eltern zu begeben. Die erste Autorität im Leben bleibt immer eine, auch wenn sie (oft mehr als berechtigt) in Frage gestellt werden sollte. Und was fast noch schlimmer ist; Diese falsche Autorität überträgt sich später auf Vorgesetzte, LehrerInnen oder auch Partner. Im Titelwesen wurzeln Hierarchien. Und Titel verhindern Gleichheit. Sollen sie ja auch. Denn, mal andersrum gefragt: Warum nennen Eltern ihre Kinder nicht Tochter oder Sohn?

Ich habe schon oft mit anderen darüber gesprochen, warum ich mich seit jeher von meinen Kindern mit meinem Vornamen anreden lasse.  Dabei missioniere ich nicht. Wir haben das nur für uns entschieden. Aber stets begeben sich diejenigen, die davon hören, umgehend in eine  Verteidigungslinie und rechtfertigen sich. Meistens schwingt ganz viel Stolz mit, Eltern zu sein. Verstehe ich auch. Das kann man aber auch, wenn man sich selbst bleibt.

Es ist erstaunlich: Die Menschheit entwickelt sich in jeder Generation weiter, doch das Eltern- und auch Großeltern-Titelwesen ist offenbar unerschütterlich.

Dabei wären das doch mal zwei emanzipatorische Schritte: Zum einen, nicht mehr von sich in der dritten Person zu reden, sondern zu sagen: „Mia, komm zu mir.“ Und als zweites den Titel abzulegen. Mia, da bin ich sicher, wird ihre Oma trotzdem lieben. Und auch dann oft nicht auf sie hören.

Ein Kommentar

  1. Barbara sagt:

    Hallo Kersten,

    sicherlich hast Du mit Deinen Überlegungen recht. Dieses Gerede in der dritten Person hängt jedoch auch damit zusammen, dass Kinder erst ab einer gewissen Entwicklungsstufe sich selbst als „Ich“ bezeichnen. So spiegeln Erwachsene dies nur, in dem sie von sich selbst in der Dritten Person reden – genauso wie sie in diese dusselige Babysprache verfallen. Da kann Kind sich manchmal nur an den Kopf fassen. Egal ob Mama, Papa, Kersten oder Hans, aus diesem Autoritätsgefüge müssen wir uns als Erwachsenwerdende lösen. Ob und wie wir das als Eltern und Großeltern befördern können, liegt immer daran wie bewußt wir uns mit Erziehung beschäftigen und wie ernst es uns damit ist, unsere Kinder von anfang an als gleichberechtigt und eigenständig zu sehen.
    Schöne Sonntagsgrüße
    Barbara

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