Das Wetter ist nicht viel besser als gestern, aber es regnet wenigstens nicht. Ich habe sechs Stunden geschlafen und wache das erste Mal so rechtzeitig auf, dass ich es zum Frühstück schaffe. Heute geht es in ein Wasserdorf. Es heißt Zhujiajiao und gilt als „Venedig Shanghais“. Es gibt nur noch wenige dieser alten Orte. Die Menschen siedelten sich früher direkt am Lauf eines Flusses an. Entlang der Wasserstraße entstand dann das Dorf. Das Fortbewegungsmittel war ein Boot. Der Fluss ernährte sie. Heute sind chinesische Wasserdörfer eine touristische Attraktion. Der Vorteil: Die Menschen, die hier wohnen, verdienen damit ihr Geld.
Viele chinesische Familien sind wie wir in Zhujiajiao zu Besuch, endlich bekommen wir auch kleine Kinder zu sehen. Sie sind sonntagsfein herausgeputzt.
Wir bekommen eine Führung durch ein Areal, in dem einst reiche Leute lebten. Es ist eine große Gartenanlage mit repräsentativen Räumen. Diese Anlage liegt ebenfalls direkt im Dorf am Fluss. Ansonsten reihen sich kleine Häuser dicht an dicht. Jedes ist vorne offen, es sind Geschäfte und Restaurants darin. Es gibt alles: Kleidung, Schmuck, Handwerk, Stoffe, verschiedenste Gerichte. Etliches wird auf kleinen Öfen direkt vor dem Haus zubereitet. Alte Frauen sitzen auf kleinen Hockern und brutzeln Gemüse, Tofu oder Fleisch. Oder sie drehen Karamell und Zuckerwatte auf Stöcke. Hier sehe ich auch frittierte Frösche. Man kann sie essen wie Chicken Wings – wir haben keine Neigung, das zu tun.
Eine Bootsfahrt ist eingeplant. Am Steg stehen wieder sehr alte Frauen mit Wassereimern. Darin schwimmen kleine Fische. In ihren Händen tragen sie Plastikbeutel. Auch darin schwimmen Fische. Sie bieten sie uns an, für fünf Yuan den Beutel. Bis ich begreife, dass ich sie nicht mit nach Hause nehmen, sondern in den Fluss zurückwerfen soll, vergehen ein paar Minuten. Da das Glück bringt, kaufen wir diese Beutel und retten ein paar Fischen das Leben. Möge es Glück bringen.
Am Nachmittag fahren wir zum Fernsehturm „Oriental Pearl TV Tower“, der auf der Insel Pudong liegt, wo das Finanzzentrum Shanghais angesiedelt wurde. Wir besichtigen das Historische Museum, das darin eingebaut wurde. Es gibt allerhand zu sehen, vor allem aus den 1930er Jahren. Die ersten Autos, Straßenbahnen, Busse. Darunter ist auch das Auto, mit dem der ehemalige US-Präsident Richard Nixon gefahren sein soll. Kein Wunder, dass es hier ausgestellt ist – Mao Zedong schüttelte ihm einst die Hand.
Was allerdings fehlt sind die Zeit, das Wirken und die Verbrechen von Mao Zedong und seiner „Viererbande“. Wir hatten schon mitbekommen, dass in China keine Aufarbeitung dazu stattfindet. Aber warum? Es gibt ihn als Büste und auf T-Shirts. Sein Konterfei ist auf den Geldscheinen abgebildet. Seine „Bibel“ gab es selbst in Zhujiajiao zu kaufen.
ch finde, ein Volk muss aus seiner Vergangenheit lernen. Vor allem Demokratiedefizite gehören dazu. Doch auch in der Schule soll Mao kein großes Thema sein.
Oft ist mir von dem Turbokapitalismus erzählt worden, der in China betrieben würde. Ich sehe das anders. Es gibt nur einen Kapitalismus mit seinen Gesetzmäßigkeiten, seiner Krisenanfälligkeit, seinem ausbeuterischem System. Mich stört deswegen auch der Begriff Finanzkapitalismus. Er erweckt wie Turbokapitalismus den Eindruck, als wenn es schlimmere und weniger schlimmere Kapitalismen gäbe.
China hat eine eigene Entwicklung und betritt historisch Neuland. Das Land lässt kapitalistische Produktion zu, die KPCh kontrolliert aber wesentliche und bedeutende Märkte. Der Weg ist widersprüchlich und risikoreich. Die Umwelt bleibt auf der Strecke. Die Demokratie hechelt der Ökonomie hinterher. Wenn nur Profit den Fortschritt diktiert, bleibt das Primärziel allen Wirtschaftens, dass es dem Menschen gutgehe, nachrangig. Es müsste mehr geschehen, als das bislang der Fall ist. Die Situation der WanderarbeiterInnen zeigt das deutlich. Dennoch schaue ich mit Respekt auf das, was hier geschieht, allein wenn ich mir die chinesischen Mega-Städte mit ihren zig Millionen EinwohnerInnen und die damit verbundenen Herausforderungen ansehe.
Ich höre und sehe, dass der Prozess in China, vor allem in Shanghai, kritisch überprüft wird. Was ich mich frage: Haben viele oder nur wenige die Möglichkeit, zu prüfen? Heute hörte ich, dass der Volkskongress nicht öffentlich tagt. Offenheit tut aber nicht nur gut, Offenheit hilft auch, Fehler zu vermeiden.
China ist spannend und ich finde es gut, dass ich die Möglichkeit hatte, einen direkten Einblick zu bekommen. Ich habe für meine Politik in Hamburg viel gelernt. Wir wurden sehr gastfreundlich empfangen. Ich habe auch die ChinesInnen, die uns auf der Straße, in den Restaurants oder im Hotel begegnet sind, als freundliche, aufgeschlossene Menschen wahrgenommen, Die Sprachbarriere hat mich geärgert – aber das werde ich so schnell auch nicht ändern können.
Unser Programm ist allerdings auch noch nicht vorbei: Morgen haben wir noch einen Empfang beim Frauenverband, erst dann geht es zum Flughafen und auf den Weg zurück, der 12.000 Kilometer lang ist.
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