Der Wahlkampf geht zu Ende. Wir haben um jede Stimme geworben. Mit Argumenten und Charme, mit Taschen- und Brillenputztüchern, Kugelschreibern und vielen, vielen Flugschriften. Wir haben Hände geschüttelt, Gespräche geführt, Plakate aufgestellt, Fahnen geschwenkt, Luftballons aufgeblasen, Feste gefeiert. Auf Facebook gepostet, gebloggt, getwittert.
Heute habe ich bewusst auf ein Kreuz auf dem Stimmzettel verzichtet. Ich habe sogar noch mehr getan: Ich habe zu einer Passantin gesagt: „Das macht nichts, dass wir Ihre Stimme nicht bekommen.“ Warum? Weil man rassistischem und nationalistischem Gedankengut auch dann Grenzen setzen muss, wenn es sich nicht um das Verhindern von Nazi-Demos und -Aufmärschen handelt. Sondern wenn der Alltags-Nazi in den Menschen zum Vorschein kommt.
Ich habe einer Passantin das Info-Material der Linken, bestehend aus Wahlzeitung, Personenflyer, Brillenputztuch und Kugelschreiber, wieder aus der Hand genommen mit den Worten: „Wissen Sie was, geben Sie mir das mal besser wieder zurück.“
Warum war es soweit gekommen?
Zwei Stunden haben wir heute am Tibarg – dem Einkaufszentrum Niendorf Markt – gestanden. Wir waren zu fünft. 20 Meter weiter stand die SPD, noch weiter weg die CDU und noch etwas weiter weg die Grünen. Es war eine tolle Stimmung. Wir haben echt viel verteilt, Gespräche geführt, einige Kinder sind mit dem roten Flitzer herumgekurvt, den ich mitgebracht hatte.
Dann kam eine Frau etwa in meinem Alter, Typ linksliberal, Lehrerin, auf mich zu – oder trat ich an sie heran? Egal. Sie nahm mir bereitwillig das Wahl-Päckchen aus der Hand. Dann fragte sie mich: „Sagen Sie einmal, was meint DIE LINKE eigentlich, wie viele Asylanten noch ins Land gelassen werden sollten?“ Als ich noch etwas stutzte, hakte sie nach: „Nun sagen Sie doch mal eine Zahl!“
Nun gehöre ich nicht zu den Schnellschuss-Argumentiererinnen, gerade nicht am Info-Stand. Ich will immer erst hören, was das Motiv für eine Frage ist. Daher fragte ich zunächst zurück: „Wie meinen Sie das genau? Aus einem bestimmten Land – Syrien? Hier für Hamburg? Eimsbüttel?“ Vielleicht wollte sie ja mit mir über die tschetschenischen Familien reden, die auf dem Parkplatz Lokstedter Höh‘ in das aufgebaute Conainerdorf gezogen waren. Oder meinte sie Deutschlandweit?
Die Frau wurde aber immer ungehaltener. Ich solle endlich mal eine Zahl nennen, forderte sie mich auf. Ich lasse mich aber nicht auf so etwas ein, und sagte daher: „Wir müssen für alle Menschen da sein, die in Not sind, wo Kriege sind, vor allem, weil Deutschland Waffen exportiert und damit Kriege schürt. Wir haben eine Verantwortung.“ Das wollte sie offenbar nicht hören, denn sie schaute genervt und sagte, die Leier kenne sie schon. Ich solle jetzt eine Zahl nennen.
Natürlich nannte ich keine Zahl. Ich wiederholte meine grundsätzliche Position. Sie fragte: „Und wer soll das bezahlen?“ – „Wir natürlich!“, sagte ich. Dann war sie wohl bei dem angekommen, was sie störte. Sie tippte sich ans Dekoltee und sagte: „Ich soll das bezahlen? Von meinem Geld? Meinen Sie das?
„Wir alle“, entgegnete ich, konnte aber nicht weiterreden, denn sie fiel mir ins Wort – recht aggressiv: „Und was ist, wenn Afrika erst leergeräumt ist? Die kommen doch alle hierher!“
Ich schaute sie an und fragte sie, ob sie das wirklich ernst meine. So ein Bild aufzubauen, sei hanebüchen und unrealistisch. Ich merkte, dass ich auch ärgerlich wurde. Sie ließ keine Zweifel, dass sie das ernst meinte.
Und so ergriff ich – ehrlich gesagt, ohne groß nachzudenken und vermutlich aus reiner Notwehr, das Material, das sie in der Hand hielt. Natürlich war sie dann richtig verärgert. Und schimpfte: „Jetzt haben sie gerade eine Stimme verloren.“
Auf Facebook haben viele gesagt, dass es richtig war, was ich gemacht habe. Ich glaube auch. So wie diese Frau denken doch viele. Das ist der alltägliche Rassismus, diese „Das Boot ist voll“-Ideologie, die auch die Mehrheitspolitik so gnadenlos bedient mit ihren repressiven Asylgesetzen – und sich im Recht dabei fühlt, weil es im Gesetz so steht wie es da steht.
Vielleicht hält die Frau mein Tun ja doch zum Nachdenken an. Dann hätten wir wenigstens etwas gewonnen.
Kann ich gut nachempfinden – ich finde es schon berechtigt, solchen Menschen das Wahlmaterial durchaus wieder abzunehmen – diese Sorte Mensch – denen es zudem doch eher viel zu gut geht rein materiell – haben wir leider zu viele! Mitgefühl und Mitmenschlichkeit passt in diese hohlen Köpfe einfach nicht rein. Aber wenn es was „abzugreifen“ gibt, dann stehen die in der ersten Reihe!